Vorwort
Dieser Bericht zeigt den Prozess um die Aufklärung eines Missverständnisses zwischen zwei Schülern des [xxx]-[xxx]-Gymnasiums in Köln. Ziel ist es, das Vorgehen und Verhalten der Schule gegenüber einem 13-jährigen Schüler möglichst sachlich und faktenbasiert zu schildern sowie die Folgen dieser Klärung darzustellen. Dazu berufe ich mich, Joanna Moll, Mutter von Frederick, hauptsächlich auf die Strafanzeige, die Schülerakte, den Entschuldigungsbrief meines Sohnes an die Schule vom April 2009 sowie mein eigenes Erleben. Auch wenn unser Sohn und wir, seine Eltern, den Vorfall im Jahr 2009 als Auslöser einer schweren Depression gesehen haben, der schließlich zu seinem Suizid im Jahr 2013 geführt hat, möchte ich das Verhalten der Schule gegenüber einem 13-jährigen Kind unabhängig von den für meinen Sohn tragischen Folgen in den Mittelpunkt meines Berichts stellen.
Dieser Bericht ist vom Wunsch begleitet, dass er beim Leser zur Reflexion über das eigene Handeln und dessen Wirkung auf Menschen führen möge.
Was geschah
Am 2. April 2009 bezichtigt das [xxx]-[xxx]-Gymnasium ([xxx]) den 13-jährigen Frederick Moll, Schüler der 8. Klasse des Gymnasiums, einen Amoklauf angekündigt zu haben.
Am 3. April erstattet der Schulleiter, Dr. Peter J. Strafanzeige wegen „Störung des öffentlichen Friedens durch Androhung von Straftaten”.
Am 29. August 2013 übergießt sich der mittlerweile 17-jährige Frederick auf dem Kölner Neumarkt in der Nähe des Gymnasiums mit Benzin und zündet sich an. Am 30. August 2013, seinem 18. Geburtstag, stirbt er.
„Was mag Jan Frederick M. in den letzten Stunden seines Lebens durch den Kopf gegangen sein, am Abend vor seinem 18. Geburtstag? (…) Es ist der 29. August gegen 23.15 Uhr. Jan Frederick M. überschüttet sich mit Benzin und zündet sich an. ‚Er brannte vom Kopf bis Fuß‘, erinnert sich ein Augenzeuge. Der Junge bittet eine Notärztin: ‚Lassen sie mich sterben. Ich kann nicht mehr.‘ Im Krankenhaus kann man nichts mehr für ihn tun. Der öffentliche Selbstmord eines Jugendlichen auf einem der zentralen Plätze der Stadt. Eine Tat wie ein Hammerschlag, ein Fanal. Wie kann es so weit kommen? Warum wird ein junger Mensch des Lebens derart müde?“ (Kölner Stadt-Anzeiger 14./15.09.2013)
Drei Tage vor seinem Tod schreibt Frederick in einem Internetforum: „Der Gedanke macht mir Angst, dass irgendjemand, seien es Eltern oder Familie, die trotz auf der Hand liegender Gründe irgendwelche Erklärungen suchen, das Bild von mir, wie ich gelebt habe und gestorben bin, verfälschen.” Denn „bei mir war der eindeutige ‚Auslöser‘ nur eine Kleinigkeit.“ Weiterhin schreibt er: „Ich habe das Bedürfnis, meine Erfahrungen an jemanden weiterzugeben, Menschen vor demselben Schicksal zu bewahren.“
Auf sein Klavier legt Frederick statt eines Abschiedsbriefes seinen Entschuldigungsbrief an das [xxx]-[xxx]-Gymnasium, den die Lehrer von ihm am 3. April 2009 forderten. Darin wurde er aufgefordert „insbesondere Bezug nehmen (…) auf die Wirkung seines Handelns auf andere Personen.”
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Frederick besucht das humanistische [xxx]-[xxx]-Gymnasium ([xxx]) von der fünften bis zum Ende der neunten Klasse (2005 bis 2010). Die Wahl der Familie fällt auf diese Schule, weil hier die Möglichkeit besteht, Interessen und Begabungen der Schüler individuell zu fördern. Außerdem entsprechen die humanistischen Werte des Gymnasiums dem Weltbild der Familie. Die Einhaltung dieser Werte wird mit dem Schulvertrag verbindlich für Schule und Schüler festgeschrieben. Darüber schreibt der damalige Schulleiter Dr. Peter J. im Jahrbuch der Schule (Nr.7. 2008, S.24/25): „Geht es in dem Schulgesetz um einen Marktpreis, so in unserem pädagogischen Schulvertrag um die Treue im Versprechen, um einen Wert. Geht es in den Kopfnoten um Geschicklichkeit und Fleiß im Arbeiten, um Nutzen und Vorteil und um Sekundärtugenden, so geht es im Schulvertrag um Einstellungen und Einsichten, um gegenseitigen Respekt und Toleranz, um Solidarität und Verantwortlichkeit, somit um wertorientierendes Handeln. Ziel ist es dabei, in der kritischen Auseinandersetzung mit der Welt und Gesellschaft der Vernunft zu ihrem Recht zu verhelfen und die Achtung vor jedem menschlichen Leben als verpflichtende Aufgabe anzuerkennen. (…) Der Schulvertrag erweist sich so nicht nur als pädagogisches Institut, sondern zugleich auch als sittliches Institut. (…) So wie es in einer Formulierung des kategorischen Imperativs heißt: Man solle so handeln, dass man die Menschheit in der eigenen als auch in der Person eines jeden anderen zugleich als Zweck und niemals bloß als Mittel gebrauche.“
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Über die Situation im April 2009 werden die Eltern von der Schule nur mündlich informiert. Wie die Schule den Sachverhalt gegenüber der Polizei darstellt und wie die Geschehnisse in den Akten festgehalten sind, ist ihnen bis 2014 nicht bekannt, zumal die Strafanzeige erst nach einem Jahr von der Polizei schriftlich bearbeitet wurde. Über die Ereignisse vom 2./3. und 21. April erfahren sie hauptsächlich von ihrem Sohn.
Am Freitag, dem 3. April 2009, wurde Fredericks Vater von der Stufenkoordinatorin Birgit H. und der Schule nur darüber informiert, dass Frederick einen Brief an die Schule schreiben und sich zum „Gedankenaustausch mit der Schulpsychologin treffen soll.“ Die Strafanzeige und die Schülerakte beantragen sie erst im Jahr 2014.
Im September 2013 wird in der Presse über den öffentlichen Suizid von Frederick auf dem Kölner Neumarkt berichtet. Zwei Wochen nach dem Tod ihres Sohnes werden die Eltern vom Journalisten Brian Schneider für den „Kölner Stadt-Anzeiger“ interviewt. Die Geschehnisse dieser beiden Tage und des zweiten Tages nach den Osterferien, dem 21. April 2009, werden dem Journalisten von der Schule und den Eltern jedoch anders geschildert, als sie 2009 in der Polizei- und der Schülerakte festgehalten worden waren.
Die Eltern können zu diesem Zeitpunkt den Vorfall nur so schildern, wie er sich Frederick und in den späteren Aussagen der Schule ihnen gegenüber darstellte, sowie wie sie diesen selbst erlebt haben.
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Am Donnerstag, den 2. April 2009, erzählt Frederick seinen Eltern von einem Zwischenfall, der sich in der Altgriechisch-AG desselben Tages ereignet habe. Frederick ist sehr aufgeregt und berichtet von einem Gespräch unter Mitschülern, dessen Thema Zombies gewesen sei. Zu diesem Zeitpunkt kann die Lehrerin die sechs Kinder nicht beaufsichtigen, weil im Nebenraum eine Klausur nachgeschrieben wird. Die Schüler albern herum.
Im Redefluss habe Frederick einen Satz gesagt, der seine Mitschülerin Tabea L. zum Weinen gebracht habe. Aus seiner Sicht habe sie ihn falsch verstanden, weshalb er ihr seine Aussage erklärte. Aufgrund der Tatsache, dass er sich unmittelbar für seine Bemerkung bei Tabea entschuldigt hatte und er sowie die anwesenden Kinder versucht hatten sie zu beruhigen und ihr Fredericks Äußerung zu erklären, halten die Eltern die Angelegenheit für beigelegt. Mit den Reaktionen von Tabeas Familie sowie der Schule rechnen sie nicht. Eines bleibt bei seiner Erzählung jedoch ungeklärt. Dazu gehört der Satz, den Frederick im Unterricht gesagt hat. Er selbst kann sich daran nur sehr fragmentarisch erinnern.
Die Schule bzw. die Bezirksregierung Köln stellt den Sachverhalt vom 2. April 2009 gegenüber dem Kölner Stadt-Anzeiger im gleichen Artikel vom 14./15. September 2013 wie folgt dar: „Die Bezirksregierung teilt als Aufsichtsbehörde mit, an der Schule sei man entsetzt über den Selbstmord. Alles sei jedoch abgelaufen wie in vergleichbaren Fällen auch. Aus dem Umfeld der Schule ist eine andere Version des ‚Vorfalls‘ zu erfahren: Jan Frederick M. habe für den Tag des Abi-Gags [3. April] einen Amoklauf angekündigt und gedroht ‚alle abzuknallen‘. (…)“
Die Eltern können diese Aussage zunächst nicht entkräften, da ihnen die Polizei- und die Schülerakte fehlen. Nachdem ihnen diese Dokumente vorliegen, stellen sie fest, dass in der Strafanzeige aus dem Jahr 2009 an keiner Stelle von einem befürchteten Amoklauf gesprochen wird, weil sich für die Polizei kein Verdacht ergab. In der Schülerakte steht sogar, dass es sich dabei um „ein Missverständnis gehandelt“ habe.
Diese Aussage sowie Fredericks Schilderung bestätigt später ein Augenzeuge der Mutter gegenüber: „Es war mehr oder weniger ein blödes Gerede über Zombies. Tabea hat geweint und Frederick hat sich bei ihr stark entschuldigt. Daran kann ich mich gut erinnern. Es war ein Missverständnis. Tabea hat Frederick gar nicht verstanden. An seinen Satz kann ich mich nicht mehr erinnern.“
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Am Freitag dem 3. April 2009 wird von der Polizei nach einem kurzen Gespräch mit Frederick sein Zimmer besichtigt, wogegen weder er noch sein Vater Einwände äußern. Sie sieht auch danach in ihm kein Gefahrenpotenzial:
„(…) Ebenso einvernehmlich wurde mit dem Vater und Frederick dessen Zimmer in der elterlichen Wohnung aufgesucht und in Augenschein genommen. Frederick besaß ein eher außergewöhnliches Zimmer. Es war neben einem Klavier gespickt mit Literatur in englischer und deutscher Sprache. Viele Bücher handelten über berühmte Bauwerke und Eisenbahnen, wofür er einen Faible entwickelt hatte. Insgesamt wirkte Frederick tatsächlich reifer entwickelt, als es für einen 13-jährigen Jungen üblich ist. Dennoch konnte in der kurzen Zeit der Begutachtung seiner Person festgestellt werden, dass er eine positive Lebenseinstellung und nicht ungeklärte Problematiken und Verbitterungen mit sich herumschleppt. Insofern wurde in Frederick kein Gefahrenpotenzial festgestellt, was zu weiteren polizeilichen Maßnahmen hätte führen müssen.“
Versuch einer Aufklärung
Noch am selben Tag, dem 2. April 2009, kann sich Frederick nicht mehr genau an den von ihm im Unterricht ausgesprochenen Satz erinnern.
Erst 2014 erfahren die Eltern aus der ihnen dann vorliegenden Strafanzeige, was die Polizei aufgrund der Angaben von Frau H. dazu festhält: „Er (Frederick) soll sinngemäß gesagt haben: Wir sind sowieso halbe Zombies, ich kaufe eine Waffe und bringe uns um, dass sind wir richtige Zombies.“
Am Donnerstagabend, den 2. April 2009, übermittelt Tabeas Vater, Dr. Friedrich L., Leitender Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, dem Schulleiter Dr. Peter J. eine Nachricht, die am Freitag in der Strafanzeige festgehalten wird:
„Am 03.04.2009 wurde die Polizei darüber informiert, dass der 13-jähriger Schüler Frederick Moll (…) am gestrigen Tag gegenüber einer Mitschüler [sic!] gesagt haben soll, er würde mit einer Waffe in die Schule kommen. Am Vorabend hatten die Eltern der Schülerin Tabea aus der Klasse 8b der Schulleitung eine entsprechende Nachricht zukommen lassen. Tabea hatte ihre Erkenntnisse von einer Mitschülerin namens Theodora K., die wiederum diese Geschichte von einem Paul P. gehört haben will.”
Über eine nach der Alt-Griechisch-AG stattgefundenen Telefonkette wird Fredericks Mutter am nächsten Nachmittag von der Schule informiert. Wer die Beteiligten waren, erfahren Frederick und seine Eltern nicht. In der Strafanzeige sind die Namen Tabea, Teodora und Paul erwähnt. In der Schülerakte werden zu dem Vorfall Tabea und zwei andere Schüler genannt. Die beiden letzteren Schüler waren im Unterricht nicht anwesend.
Am gleichen Donnerstagabend gegen 21.30 Uhr ruft Fredericks Klassenlehrer Patrick H. bei Familie Moll an. „Frederick hat in der Schule einen Satz gesagt“, informiert Herr H. die Eltern. Der Inhalt dieses Satzes sei noch nicht ganz geklärt. „Morgen wird in der Schule ein Gespräch mit Frederick stattfinden.“
Frederick mag und schätzt seinen Klassenlehrer und gegen Gespräche haben die Eltern grundsätzlich keine Vorbehalte. Deshalb äußern sie gegenüber dem Lehrer keine Einwände. Die Notwendigkeit, Sachverhalte aufzuklären, können sie nachvollziehen. Von einer Drohung und der Tatsache, dass die Schule Frederick eines Amoklaufes verdächtigt, sagt Herr H. am Telefon nichts. Er bittet die Eltern nicht bei dem Gespräch dabei zu sein. Da er sie nicht über einen Amokverdacht und die Frederick unterstellte Drohung informiert, lassen sie ihren Sohn im Vertrauen auf eine Klärung am nächsten Tag allein in die Schule fahren.
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Am Freitagmorgen, den 3. April 2009, „fängt der schuleigene Security-Dienst Frederick ab und übergibt diesen der Schulleitung. Eine Waffe führte der Junge nicht mit sich“, notiert die Polizei in der Strafanzeige.
In der Schule werden trotz der vermeintlichen Amokgefahr keine Sicherheitsvorkehrungen getroffen. Alle Schüler kommen an diesem Tag in die Schule. Aus der Strafanzeige geht hervor, dass die Zeugen von Frau H. befragt worden sein sollen. Die Lehrer hätten somit die Möglichkeit gehabt, Frederick direkt mit den Mitschülern zu konfrontieren und den Zwischenfall im Unterricht sofort und im Beisein aller Beteiligten als Missverständnis aufzuklären.
Von ihrem Sohn erfahren die Eltern am Nachmittag, dass diese Chance jedoch nicht wahrgenommen wurde. Dies, obwohl die Aussage des Lehrers am Vorabend für sie so zu verstehen war, dass das Gespräch mit Frederick in seiner Anwesenheit und der beteiligten Schüler stattfinden sollte. Stattdessen wird er nur mit den Lehrern konfrontiert, und mit keinem Mitschüler oder Zeugen.
Während Frederick unter Aufsicht der Schulleitung gestellt ist, beschließt der Schulleiter, die Polizei zu informieren. Patrick H. ruft die Eltern an und setzt sie in Kenntnis, dass derzeit ein Gespräch mit ihrem Sohn stattfinde, die Polizei dazukommen werde und sie deshalb zur Schule kommen mögen.
Laut Strafanzeige sprechen der Schulleiter Dr. Peter J., die Stufenkoordinatorin Birgit H. und der Klassenlehrer Patrick H. mit Frederick, bis der Vater und die Polizei ankommen. Aus den Dokumenten und Fredericks Brief an die Schule geht hervor, dass er von den Lehrern mit Vorwürfen konfrontiert wird, die sich auf Aussagen seiner Mitschüler stützen sollen. Die Namen der Schüler werden ihm nicht genannt.
Frederick wird vorgeworfen, Tabea im Unterricht gedroht zu haben und unterstellt, dass er „gefährlich auf seine Mitschüler wirke“. Dabei gehe „von ihm eine Bedrohung aus“, er „verbreite Angst“. In der Strafanzeige wird festgehalten, „(…), dass sein Handeln durchaus geeignet war, seine Mitschüler zu verunsichern.“
Aus den Unterlagen lässt sich des Weiteren entnehmen, dass er laut Schule von seiner „gefährlichen Wirkung“ hätte wissen müssen und diese womöglich habe selbst hervorrufen wollen. Der gesamte Vorfall geht aus Sicht der Schule auf Fredericks „negatives Gesamtbild“ zurück, für das er selbst verantwortlich sei. Ohne Zeugen kann er die Vorwürfe und Aussagen, die den Tatsachen widersprechen, weder überprüfen noch entkräften. Die Polizei hingegen schreibt in der Strafanzeige, dass „er jedoch nicht absichtlich Angst verbreiten wollte.“
Frederick wird klar, dass ihm die Schule einen Amoklauf zutraut. Ohne diese Einschätzung, die den bisherigen Aussagen der Lehrer über ihn gänzlich widerspricht, hätte man nicht die Polizei gerufen, um ein „Gefahrenpotenzial“ bei ihm festzustellen. Verwunderlich ist, dass seine Lehrer ihm gerade erst zum Halbjahreszeugnis wie in vorherigen Zeugnissen auch ein „sehr gutes Sozialverhalten“ und die „Einhaltung der im Schulvertrag vereinbarten Regeln“ bescheinigen.
Die Auswirkungen des Gespräches zwischen Frederick und seinen Lehrern werden später im Bericht der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters (KJP) von den Ärzten beschrieben. Er selbst spricht darüber nicht. In einem Brief an eine Freundin im Jahr 2011 schreibt er jedoch:
„Ich wollte Dir von meinem Freund, dem Tod, erzählen. Es ist die Entwicklung einer Freundschaft, die Ostern 2009 begann. Seit daher war er in meinem Leben.“
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Im Jahr 2014 entnehmen die Eltern der Strafanzeige, dass die Polizei es nicht für notwendig hielt, die Mitschüler zu befragen. Stattdessen verlässt sie sich auf die Aussage der Stufenkoordinatorin, obwohl sich in der Strafanzeige direkte Widersprüche ergeben. „Die in Rede stehenden Kinder/Zeugen sind durch Frau H. bereits befragt worden.“
Über die Aussagen der von Frau H. befragten Zeugen Tabea, Teodora und Paul äußert sich die Polizei zu Beginn der Strafanzeige in nur einem Satz: „Tabea hatte ihre Erkenntnisse von einer Mitschülerin namens Teodora K., die wiederum diese Geschichte von einem Paul P. gehört haben will.“ Weitere Informationen zu Zeugen oder ihren Aussagen befinden sich nicht in der Strafanzeige.
In ihrem weiteren Verlauf ist Tabea laut Aussage von Frau H. jedoch anwesend und wird als einzige Geschädigte aufgeführt: „Demnach ergab sich folgender Sachverhalt: Mehrere Schüler, darunter Frederick, hatten nach oder im Griechischunterricht an einer Diskussion über den Irakkrieg teilgenommen. Auf den Hinweis von Tabea, dass sie durch den Krieg Angehörige verloren habe, soll sich der Frederick sarkastisch geäußert haben.“
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Die Angaben in der Strafanzeige weisen an dieser Stelle einen klaren Widerspruch auf, dem die Polizei nicht nachgeht. Zu Beginn wird nicht eindeutig notiert, wem Frederick gedroht haben soll. Die Polizei protokolliert: „einer Mitschüler”. Dabei wird festgehalten, dass Tabea sich zu der Drohung über Dritte äußert; sie habe Erkenntnisse von Teodora, die wiederum als ursprüngliche Informationsquelle Paul benennt. Weiter soll sich Frederick in einer Diskussion dann jedoch direkt gegenüber Tabea sarkastisch geäußert haben.
Laut Strafanzeige bleibt es unklar, ob er und Tabea direkt miteinander gesprochen haben oder nicht und wem Frederick konkret gedroht haben soll. Der Vorwurf gegen Frederick wird seitens der Polizei alleine wegen der sarkastischen Äußerung Tabea gegenüber erhoben.
Aus dem zum Vorfall von Frau H. verfassten Vermerk in Fredericks Schülerakte ergibt sich eine weitere Unstimmigkeit im Vergleich zur Strafanzeige. Die Stufenkoordinatorin notiert hier die Namen von zwei anderen Mitschülern, mit denen über die Vorkommnisse gesprochen werden sollte: „Entsprechende Gespräche mit M., M. und Tabea sind bereits erfolgt.“ Die beiden Schüler M. und M. werden in der Strafanzeige nicht als Zeugen aufgeführt. Zudem nehmen sie nicht an der Altgriechisch-AG teil und waren beim Zwischenfall nicht anwesend. Paul P. und Teodora K., die in der Strafanzeige als Hauptinformanten aufgeführt sind, werden in der Schülerakte dagegen nicht erwähnt. Inwiefern die beiden Schüler M. und M. in den Vorfall involviert waren, wird nicht erklärt. Ebenso wie es nicht ersichtlich ist, ob Paul und Teodora tatsächlich Aussagen getätigt haben. Trotz mehrmaliger Nachfrage bei der Schule werden den Eltern keine Namen von Schülern genannt.
Unmittelbar nach dem Geschehen im Unterricht am Donnerstag sagt Frederick seinen Eltern, er könne sich an den genauen Wortlaut seines Satzes nicht mehr erinnern. Aus der Strafanzeige im Jahr 2014 erfahren die Eltern, dass „Frederick zunächst eine solche Äußerung“ bestreitet. Diese wird der Polizei nur von Frau H. angegeben und gar nicht überprüft. Der Satz bleibt unklar. Deshalb wird festgehalten: „Er (Frederick) soll sinngemäß gesagt haben (…)“ In der Schülerakte beschreibt Frau H. die Äußerung als „unbedacht” und als „Äußerung, die nicht ernst gemeint war”.
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Die Polizei darf Frederick ohne Beisein der Eltern nicht befragen. Am Freitagmorgen, dem 3. April 2009, erscheint Fredericks Vater Detlef Moll gegen 10 Uhr in der Schule. Er geht davon aus, dass die Polizei, die Mitschüler bereits zu dem Zwischenfall am Vortag befragt hat, und sich nun Frederick selbst gegenüber der Polizei äußern soll. Er wird von den Lehrern nur wiederholt gefragt, wie der von ihm geäußerte Satz gelautet hat: „Sag uns, was du gesagt hast.“, „Wie war dein Satz?“, „Was hast du gesagt?“ Auf diese Fragen kann er keine genaue Antwort geben und ist wortkarg. Die beiden Polizisten beginnen daraufhin ein ungezwungenes Gespräch mit Frederick, das knapp zehn Minuten dauert.
Nach dieser Unterhaltung, in der die Sachlage kaum berührt und Fredericks angeblicher Satz von niemanden ausgesprochen wird, äußert die Polizei keinen Vorwurf gegen ihn. Auch die Schule äußert ihm und seinem Vater gegenüber keinen Vorwurf. Frau H. erklärt dem Vater, dass die Situation nun geklärt sei, was ihn beruhigt. Er hält die Angelegenheit für beigelegt. Darüber hinaus bekommt er keine weiteren Informationen über den Vorfall und auch die Angaben, die die Schule der Polizei zur Strafanzeige übermittelt. Lediglich wird er von Frau H. darüber informiert, dass Frederick einen Brief an sie schreiben solle.
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Erst 2014 müssen die Eltern feststellen, dass Zeugen und Mitschüler von der Polizei nicht befragt wurden und ihre Aussagen auch gegenüber Lehrern fehlen. Obwohl die Polizei festhält, dass Fredericks Handeln nicht absichtlich gewesen sei, es sich um eine sarkastische Äußerung gehandelt „haben soll“ und die Stufenkoordinatorin in der Schülerakte bestätigt, „(…), dass es sich bei der vermeintlichen Drohung um ein Missverständnis gehandelt“ habe, spricht die Schule kurz nach den Osterferien 2009 gegenüber den Eltern von einer Drohung seitens Frederick. Gegenüber der Presse wird 2013 sogar von einem angekündigten Amoklauf gesprochen, obwohl dieses Missverständnis bereits am Freitagmorgen von der Schule aufgeklärt worden war.
Es bleibt also unklar, was Frederick tatsächlich gesagt hat. Noch weniger klar ist, wem gegenüber er seine angebliche Drohung ausgesprochen haben soll. Es lässt sich nicht feststellen, auf welche Situation sich Tabea bezieht und auf wessen Aussagen sich Frau H.’s Angaben zu der Strafanzeige berufen.
Fest steht nur, dass Dr. Friedrich L. aufgrund der Erzählung seiner Tochter Tabea die Schule alarmiert. Fest steht auch, dass Frederick eine Drohung unterstellt wurde, der Schulleiter Dr. Peter J. wegen Dr. L.’s Anruf die Polizei informiert, den Verdacht und den Sachverhalt weder offenlegt noch klärt, Strafanzeige gegen Frederick erstattet und Ordnungsmaßnahmen gegen ihn ausspricht.
Und es steht auch fest, dass trotz der frühzeitigen Feststellung, dass es sich um ein Missverständnis gehandelt habe, die Schule die Verantwortung für den Vorfall allein bei Frederick sieht, Frederick sich als “geläuterter Amokläufer” vor allen Mitschülern verantwortlich zeigen und hierfür Schuld „einräumen” soll.
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Im Jahr 2014 erfahren die Eltern aus der Strafanzeige den Grund, warum die Lehrer die Polizei riefen und warum diese Fredericks Gefahrenpotenzial beurteilen sollten: „Da der Amoklauf von Winnenden vom 11.03.2009 keine 4 Wochen zurück lag (…)“.
Fredericks Philosophielehrerin und Stufenkoordinatorin Birgit H. gibt der Polizei eine entsprechende Beschreibung von ihrem Schüler. In der Strafanzeige wird festgehalten: „Frederick sei ein hochbegabtes Kind, fühle sich manchmal durch seine Klassenkameraden oder den Unterricht gelangweilt. Um dann eine Diskussion oder Situation interessant zu gestalten, würde er absichtlich konträre Positionen einnehmen oder sarkastisch kommentieren. Bei den Schülern gelte Frederick als Außenseiter, was ihn aber in keinster Weise stören würde. Er würde diese Stellung und damit die besondere Beachtung genießen und regelrecht kultivieren. Auf den Punkt gebracht, glaubt die Koordinatorin, dass Frederick lediglich versucht, Grenzen auszutesten.“
Die polizeiliche Einschätzung, die „in der kurzen Zeit der Beobachtung seiner Person“ stattfinden konnte, beschreibt Frederick als Schüler, der „eine positive Lebenseinstellung besitzt”. Die Eltern halten ihn für ein fröhliches und zufriedenes Kind.
Frau H. bildet sich neben ihrem Lehrerberuf weiter. Laut eigenen Angaben absolviert sie Fortbildungen wie „Elterncoaching“ und „ADHS“ an der Universität Koblenz-Landau, „Legasthenie“ und „Psychische Belastung im Lehrerberuf“ an der Universität Köln, sowie mehrere Ausbildungsreihen beim „Institut für Systemische Lösung in der Schule (ISIS)”. Darüber hinaus ist sie „Pädagogisch-therapeutische Beraterin im Feld der Systemischen Therapie“. Deshalb gilt sie an der Schule als kompetente Quelle für Schülereinschätzungen im Hinblick auf einen potenziellen Amokläufer. Im Verlauf des Schuljahres 2009 informiert sie die Familie Moll darüber, dass sie bei Frederick eine „dissoziative Störung” sehe. Diese Diagnose wird von Psychologen und Therapeuten nicht bestätigt. Stattdessen wird bei ihm ein Jahr danach in der Kinder- und Jugendpsychiatrie eine Depression festgestellt.
Die Ordnungsmaßnahmen
In den Osterferien 2009 schreibt Frederick einen Brief an Frau H. Darin entschuldigt er sich ausgiebig für das Missverständnis, das er nicht hervorrufen wollte. In der Strafanzeige wird dieser Brief als eine von zwei Ordnungsmaßnahmen festgehalten:
„Zur Beilegung der Angelegenheit aus schulischer Sicht forderte Frau H. von Frederick die Erstellung und Übersendung eines Briefes bis zum Ende der Osterferien. Darin sollte er ihr über seine Gedanken zum erlebten Sachverhalt schreiben. Insbesondere sollte er Bezug nehmen auf die Wirkung seines Handelns auf andere Personen.” Außerdem wird in der Strafanzeige gefordert: „Eine weitere Forderung an Frederick war, dass er sich mit der Schulpsychologin künftig regelmäßig zum Gedankenaustausch treffen soll.”
Weitere Maßnahmen
Am Nachmittag des 21. April 2009 informiert Frederick seine Eltern kurz über eine schulische Maßnahme gegen ihn, die am Vormittag desselben Tages stattfand: An diesem Tag, seinem erstem Tag in der Schule nach den Osterferien, geht „Frederick in Begleitung von Frau H. durch die Klassen 9 [sic!] und (sagt) den Schülern, dass von ihm keine Bedrohung“ ausgehe. Laut Schüleraussagen stellt sie ihn seinen Mitschülern der gesamten Jahrgangsstufe als „geläuterten Amokläufer“ vor, der es sich anders überlegt habe, was von ihnen als demütigend beschrieben wird.
Laut Schülerakte soll Frederick damit zum Verbleib auf der Schule geholfen werden. Frau H. schreibt hierzu: “Überlegt wurde, wie Frederick der Wiedereinstieg in seine Klasse und Jahrgangsstufe am besten gelingen kann und welche Unterstützung er benötigt”. Weiter heißt es: „Ziel wird sein, den Klassen zu sagen, dass alle Gerüchte gestoppt werden sollen (…)”. Schließlich sei seine „unbedachte Äußerung” nicht ernst gemeint gewesen und “(…) bei der vermeintlichen Drohung habe es sich um ein Missverständnis gehandelt.”
Aus der Schülerakte vom 21. April 2009 erfahren die Eltern, dass die Maßnahme mit ihnen abgesprochen sein soll. Diese und weitere Empfehlungen der Schule werden ihnen zu keiner Zeit weder schriftlich vorgetragen noch mündlich mit ihnen abgesprochen.
Nach Fredericks Tod 2013 erklärt die Schule dem Kölner Stadt-Anzeiger gegenüber ihr Verhalten so: „J. Frederick M. habe für den Tag des Abi-Gags einen Amoklauf angekündigt und gedroht, ‚alle abzuknallen‘. Zusammen mit den Eltern und dem schulpsychologischen Dienst habe man danach versucht, die Situation zu lösen und den Jungen wieder zu integrieren. Durch die Parallelklassen sei man mit einer psychologisch geschulten Lehrerin gegangen, weil in dem Griechischkurs Kinder aus verschiedenen Klassen gesessen hätten. ‚Die Schule ist mit dieser Situation verantwortungsvoll umgegangen‘, sagt ein Sprecher der Bezirksregierung.”
Im Mai 2010, nach seinem ersten Selbstmordversuch, wird die Wirkung dieser Maßnahme auf Frederick im Schlussbericht der KJP beschrieben. Der Arzt schreibt laut Fredericks Aussage: „Im April 2009 (…) sei Frederick den Parallelklassen von der Stufenkoordinatorin regelrecht ‚vorgeführt‘ worden, was er als sehr bedrohlich und schamhaft empfunden habe.“ Laut den Eltern „habe Frederick seitdem das Vertrauen zu den Erwachsenen verloren.“
Nicht lange danach treten bei Frederick Ängste auf – erst sporadisch, doch im Laufe der Zeit verstärken sie sich. 2012 schreibt er: „Ich bin alleine – auf der Flucht vor Menschen”. Kurz vor seinem Tod notiert er: „Ich schreibe ungerne von mir selber, habe des öfteren Angst vor Menschen bzw. deren Reaktionen. (…) Wenn ich virtuell kommuniziere, kann ich nur lesen, und nicht die Reaktionen des anderen erkennen. (…) Ich habe manchmal den Wunsch, stumm zu sein.”
Die Folgen
2014 lesen die Eltern in der Schülerakte, dass Fredericks Verbleib auf der Schule nach den Osterferien 2009 in Frage stand und sie zu dieser Zeit darüber nachgedacht haben sollen, was den Tatsachen jedoch nicht entspricht. Frau H. notiert dennoch, dass „Frederick in den Osterferien mit seinen Eltern gemeinsam entschieden hat, weiterhin das [xxx] zu besuchen.” Sie schreibt weiter, dass „(…) Fredericks Entscheidung, am [xxx] zu bleiben, mutig ist und Anerkennung und Unterstützung verdient”. In der Schülerakte ist außerdem zu lesen, dass „den Eltern geraten wurde, sich ebenfalls Unterstützung bei Herrn K.”, dem zuständigen Schulpsychologen zu holen oder bei “einer Erziehungsberatungsstelle (…) wahrzunehmen“.
Bis zum 2. April 2009 gab es aus Sicht der Eltern keinen Anlass, sich um Frederick Sorgen zu machen, weder in Hinblick auf sein Sozialverhalten, noch auf seine Erziehung, die schulischen Leistungen oder sein Handeln im Allgemeinen.
Sein Sozialverhalten belegen seine Zeugnisse seit der Grundschule. Bis zum 2. April 2009 war er ein Schüler mit sehr guten Leistungen, der sich laut der Schule „in erfreulicher Weise an die Regeln des Schulvertrages hält“.
Über Frederick und seinen schulischen Werdegang schreibt der zuständige Arzt der KJP im Jahr 2010: „In den Grundschulzeugnissen wird Frederick als ein aufmerksamer und kontaktfreudiger Schüler geschildert mit guter sozialer Kompetenz und differenziertem Wortschatz. Die Noten liegen im sehr guten Bereich. Zudem wird eine große Hilfsbereitschaft im Umgang mit schwächeren Mitschülern geschildert sowie das Vermögen, die eigenen Interessen zugunsten der Gruppe zurückzustellen. (…) Hier sei Frederick leistungsmäßig sehr gut zurechtgekommen, sei jedoch weiterhin schüchtern gewesen und habe sich den Kindern nur angeschlossen, wenn sie auf ihn zugegangen wären. Etwa in dieser Zeit habe er auch wechselnde ausgeprägte Interessen (Autos, Straßenbahnen, Vulkane) gehabt.” Im Gymnasium „(…) habe Frederick weiterhin sehr gute schulische Leistungen erbracht, habe jedoch kaum soziale Kontakte gehabt. Darüber hinaus sei er von einigen Mitschülern stark gemobbt worden. In den Gymnasialzeugnissen durchgehend gute bis sehr gute Leistungen mit Ausnahme von befriedigenden Leistungen im Fach Sport. Zum 2. Halbjahreszeugnis der 8. Klasse Notenabfall. Im ersten Schulhalbjahr der 9. Klasse nur noch befriedigende bis ausreichende, in einem Fach ungenügende Leistungen; auch in den Kopfnoten unbefriedigende Noten.“ „Frederick sei schon seit der Grundschulzeit auf der Suche nach einem ,wahren Freund’ gewesen, dem er alles anvertrauen und auf den er sich vollständig verlassen könne. Die Suche nach Freunden mit gleichen Interessen sei weitestgehend erfolglos gewesen. Dafür habe Frederick die Beziehung zum Lehrpersonal gesucht.“
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Nach dem 2. April 2009 fallen Fredericks „sehr gute” Kopfnoten im ersten Halbjahr der Klasse 8 auf „unbefriedigend” im zweiten Halbjahr ab. Sein Gesamtnotendurchschnitt von 1,3 im Halbjahr 8.1 verschlechtert sich im Halbjahr 8.2 auf 2,3. Im ersten Halbjahr der 9. Klasse bekommt er außerdem vier blaue Briefe und hat einen Notendurchschnitt von 3,1.
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Erst im Februar 2010 werden den Eltern die Unterlagen über Einstellung des Ermittlungsverfahren gegen ihren Sohn von der Staatsanwaltschaft zugesandt. Die Polizei schreibt: „Der hier in Rede stehende Sachverhalt wurde bereits am 03. April 2009 abschließend bearbeitet. (…) die schriftliche Aufarbeitung musste bis heute mehrfach verschoben werden.” Das Schreiben wird Frederick zusätzlich persönlich in der Schule von den Lehrern übergeben. Die Strafanzeige wird nie zurückgezogen, sondern eingestellt, weil er zum Zeitpunkt der Anzeige das 14. Lebensjahr noch nicht vollendet hat.
Kurz nachdem die Schule Frederick das Schreiben der Staatsanwaltschaft im Jahr 2010 aushändigt, begeht er seinen ersten Selbstmordversuch und begibt sich danach freiwillig in die Kinder- und Jugendpsychiatrie in der Hoffnung, dass ihm geholfen werden kann. Als Ziel nennt er seinem Arzt „wieder ‚normal zur Schule gehen‘ zu können.“ Laut ärztlicher Diagnose leidet er an einer Depression. Im Schlussbericht der KJP wird Frederick wie folgt beschrieben: „Wir sehen einen bleichen, schwarz gekleideten, sehr schmalen Jugendlichen, der zögerlich in den Kontakt tritt, jedoch im weiteren Verlauf zunehmend offener wird und sehr reflektiert und mit großem Wortschatz auf die ihm gestellten Fragen antwortet.” Bei ihm könne man „auf eine ausgeprägte depressive Symptomatik schließen. Frederick gibt an, sich die ganze Zeit mies gefühlt zu haben, alles falsch zu machen und sich zu hassen. Auch sei ihm manchmal zum Weinen zumute, da er sich häufig einsam fühle und nicht wisse, ob ihn jemand wirklich mag. Auf körperlicher Ebene gibt er Appetitlosigkeit und Erschöpfung an. (…) Frederick gibt an, sich ungeliebt und einsam zu fühlen. Er habe Schuldgefühle und fühle sich wertlos. Er spricht von Suizidgedanken und selbstverletzendem Verhalten.“ Weiter berichten die Ärzte über eine „depressive Stimmungslage sowie Grübeln, depressive Kognitionen, Antriebsmangel und sozialer Rückzug. Hinweise auf soziale Ängstlichkeit und soziale Kompetenzdefizite. Selbstverletzendes Verhalten in Form von oberflächigem Ritzen mit zunehmender Tendenz. Dauerhafte lebensmüde Gedanken und suizidale Gedanken.“
Nach sechs Wochen Aufenthalt schreibt der Arzt im Schlussbericht: „Der Patient wurde in unser multimodales Behandlungskonzept mit ergo-, musik- und soziotherapeutischen Maßnahmen eingebunden. Der Patient profitierte nicht in erwünschtem Maße von der Behandlung.“
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Erst durch Kenntnis der Dokumente und Fredericks Entschuldigungsbrief erschließt sich den Eltern im Nachhinein, wie schwer er damals, als 13-jähriger, von der Schule beschuldigt wurde, und warum ihm kaum möglich war über die Ereignisse zu sprechen.
Von einem Tag auf den anderen machen sich Fredericks Lehrer offenbar ein ganz anderes Bild von ihrem Schüler. Wurde ihm noch bis vor kurzem in den Zeugnissen ein sehr gutes Sozialverhalten bescheinigt, zeigen sie ihm jetzt ihr großes Misstrauen. Sie schließen sogar einen Amoklauf nicht aus und in ihren Augen ist er schuldig. Dabei meinen sie sich auf Aussagen seiner Mitschüler zu stützen, bei ihm eine Absicht und ab diesem Tag Verhaltenstörungen zu sehen.
Am 24. August 2013, fünf Tage vor seinem Tod, schreibt Frederick: „Ich bin es einfach so leid, immer die Geschichten von Menschen zu hören und mir dabei zu denken: Wäre nur das in seinem/ihrem Leben anders gelaufen, hätte nur hier mal kurz jemand Verständnis gezeigt, könnte dieser Mensch jetzt glücklich sein. Und jetzt ist es zu spät. Es liegt vielleicht daran, dass bei mir der eindeutige ‚Auslöser‘ nur eine Kleinigkeit war, mit der Eltern, Lehrer und Umfeld einfach falsch umgegangen sind. (…) Die Eltern fangen an zu heulen, was ein Kind einfach nicht sehen will, vor allem, wenn das Kind es verursacht hat. Im Nachhinein hasse ich mich dafür (…)“
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Frederick besucht nach seinem Aufenthalt in der KJP das [xxx]-[xxx] Gymnasium nicht mehr. Er würde am liebsten auf gar keine Schule mehr gehen. Das große Vertrauen, das er zu seinen Lehrern und besonders zu Patrick H. hatte, hat er verloren. Ein paar Wochen vor seinem Suizid schreibt er im einem Internetforum: „Bevor sich meine Stimmung wieder in Angst vor Menschen ändert, schreibe ich darauf los. (…) Aber, rational gesehen, bin ich überzeugt, dass ich mehr Belastung als Hilfe für mein Umfeld darstelle. Insofern habe ich mir sehr viele Gedanken gemacht, bin aber einfach zu diesem Ergebnis gekommen. Die Gedanken kommen und man muss sich mit ihnen auseinandersetzen. Ausblenden hat, jedenfalls für mich, nie funktioniert. (…) und wie soll jemand geliebt werden, der sich selber hasst?”
Mit dem Vorfall vom 2./3. April 2009 ändert sich sein Leben abrupt, von dem er kurz vor seinem Tod schreibt: „Eine normale Kindheit und mich liebende Eltern hatte ich ebenfalls. Es ist bei mir ja noch nicht so lange her ein ‚Kind‘ zu sein, im Sinne des Alters. Ich bin jung – seelisch alt.” Sein Leben befindet sich in einer Abwärtsspirale und endet an seinem 18. Geburtstag am 30. August 2013. Vor seinem zweiten Selbstmordversuch am 4. April 2011 schreibt Frederick: „Gestern vor zwei Jahren nahm mein Leben eine Wende. Ab diesem Datum lief alles abwärts…“
Alles hat angefangen mit einem Missverständnis zwischen zwei Schülern. Von den Angaben in beiden Dokumenten, dem tatsächlichen Verlauf des Vorfalls und seinen Hintergründen, sowie der entlastenden Einschätzung der Polizei erfährt Frederick nie.
Fragen
Bis heute bleiben Fragen, die vom [xxx]-[xxx]-Gymnasium nicht beantwortet wurden:
- Welche konkreten Hinweise gab es für diesen Verdacht und nach welchen Kriterien wurden sie überprüft und bewertet?
- Warum wird die Klärung auf diese Weise durchgeführt und warum werden wir über den Sachverhalt nicht bzw. widersprüchlich zu den Dokumenten informiert?
- Wofür und warum wurde Frederick bestraft, wenn es sich bei dem Vorfall um ein Missverständnis gehandelt habe?
- Und was veranlasste die Schule, von einem 13-jährigen Kind die Verantwortung für diesen Verdacht und den Vorfall insgesamt einzufordern?
In seinem Buch “Schmerzgrenze” warnt Joachim Bauer, “vor einer Hysterie (…), wo Ausschau nach Amokläufern gehalten wird.” Kann man das gesamte Vorgehen der Schule gegen einen Schüler und Schutzbefohlenen somit alleine mit der um sich greifenden Angst nach der Tat von Winnenden rechtfertigen?
Nachwort
Nach mehrmaligen Versuchen, diesen Bericht zu verfassen, habe ich auf Anraten vieler Freunde ganz darauf verzichtet, die Auswirkungen auf uns Eltern zu beschreiben. Hier sollte die objektive Haltung, die beim Betrachten dieses Vorfalls wichtig ist, nicht beeinflusst werden.
Unabhängig davon fällt es mir bis heute sehr schwer, darüber zu sprechen und zu schreiben, was in der letzten Jahren geschehen ist: unsere Ängste um Frederick, die Hoffnung auf Hilfe und dabei unsere Hilfslosigkeit, noch über die Zeit nach seinem Tod und unsere tiefe Enttäuschung von der Schule, insbesondere von Fredericks Lehrern.
Uns ist bewusst, dass wir 2009 juristische Schritte gegen die Schule hätten unternehmen können und aus heutiger Sicht hätten wir das auch tun müssen. Die fehlende Transparenz und falsche Informationen seitens der Schule haben uns leider ein anderes Bild der Situation vermittelt. Damit, wie dieser Vorfall geklärt wurde, hätten wir jedoch niemals gerechnet.
Es ist uns nicht nur daran gelegen, Fredericks Bild, sowie die Situation und deren Wirkung, die bei ihm zu starken Veränderungen geführt hat, zu zeigen. Wir hoffen auch eine andere Sicht auf die Problematik eines Amokverdachts aufzuzeigen und ein Umdenken bei den Schulen in den so genannten „Präventivkampagnen“ zu bewirken. Insbesondere sei hierbei Vorsicht beim Bewerten von Hinweisen und ein sensibler Umgang mit dem beschuldigten Kind geboten. Dabei würden wir gerne auch zum Nachdenken über die Rolle des Lehrers, seiner Stellung zu den von ihm deklarierten Werten, seiner Verantwortung gegenüber Kindern, nicht nur als Schutzbefohlene, sondern im Hinblick auf gegenseitiges Vertrauen anregen.
In Fredericks Sinne möchten wir besonders junge „Menschen vor demselben Schicksal bewahren”. Im Jahr 2013 schreibt er: „Vor allem die Jugendlichen – teilweise noch Kinder, die ich in psychiatrischer Unterbringung kennenlernte, ließen mich viel nachdenken. Darüber, was ihr mit eurer Jugend macht.” Und weiter schreibt er: „Unsere Seelen haben wir bereits vor langer Zeit verloren, doch die unserer Kinder können wir noch retten.”
Obwohl dies nicht zu dem Bericht gehört, möchte ich hier auch auf Fragen bezüglich Drogen und Computerspiele antworten, die mir nach dem Tod meines Sohnes oft gestellt wurden. Frederick nahm keine Drogen oder Psychopharmaka. Ab 2010 fing er an, Zigaretten zu rauchen und darauf begrenzte sich sein „illegaler“ Konsum. Computerspiele und dergleichen haben ihn nie interessiert. Einen eigenen Fernsehapparat bekam er Anfang 2011, einen eigenen Computer einige Zeit darauf. Stattdessen ging er Zeit seines Lebens seinen vielleicht „außergewöhnlichen“ Interessen (Bücher, Musik, soziales- und politisches Leben, Wissenschaft, etc.) nach.
Vor seinem ersten Selbstmordversuch im Jahr 2010 schreibt Frederick: „Es tut mir leid, diesen Weg gewählt zu haben. Dies wird sicherlich einige Leute treffen und fragen nach dem Warum? aufwerfen, aber egal was ich sage, eine Antwort werdet ihr sicher finden.”
Danksagung
Ohne die sehr massive, unermüdliche und sachliche Unterstützung einiger Freunden in den bald fast zwei Jahren meines Versuchs, den Bericht endlich zu Ende zu schreiben, wäre dieser gar nicht entstanden. Sie haben mir immer wieder neu die Kraft gegeben, den Sinn des Verfassens gezeigt und viel Zeit und Engagement geschenkt. Dafür bin ich ihnen allen sehr dankbar.
Quellen
- Am 17. März 2014 beantragen die Eltern bei der Staatsanwaltschaft Einsicht in die Strafanzeige, die die Schule am 03. April 2009 gegen ihren Sohn erstattete. Bis dahin liegt ihnen nur die „Einstellung des Ermittlungsverfahrens gegen Frederick Moll” vom 04. Februar 2010 vor. Im Schreiben der Polizei steht: „(…) wegen mehreren vorrangig angesiedelten Ermittlungskommissionen musste die schriftliche Aufarbeitung [der Strafanzeige vom 03. April 2009] bis heute [04. Februar 2010] mehrfach verschoben werden.“ Am 02. Mai 2014 erhalten sie die Strafanzeige mit der Beschreibung des Sachverhaltes vom 02./03. April 2009 seitens Schule und Polizei.
- Am 27. August 2014 beantragen die Eltern bei der Schule Einsicht in die Schülerakte. Diese erhalten sie am 24. Oktober 2014 nach mehrfacher Nachfrage bei der Schule und zweimonatiger Wartezeit von der Bezirksregierung Köln. Die lange Wartezeit auf die Akte erklärt der jetzige Schulleiter Herr Meinolf A. dem Anwalt der Familie gegenüber mit der nötigen „Mithilfe”, die er für die Herausgabe von der Bezirksregierung benötige. Warum und in welchem Umfang die Schule Hilfe für die Herausgabe einer vorliegenden Schülerakte braucht, erläutert er nicht. Die Eltern bekommen die Schülerakte nur unvollständig. Es fehlen alle Angaben zu dem Schuljahr 2009/2010 und einige zu dem zweiten Semester 2008/2009. Dagegen befinden sich dort Unterlagen aus anderen Stellen, um die sie nicht gebeten haben.
- Dieser Bericht beruft sich auf die Strafanzeige vom 03. April 2009, Fredericks Schülerakte, den Schlussbericht der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters vom 26. August 2010, das Jahrbuch des [xxx]-[xxx ]–Gymnasiums von 2008, einen Artikel im Kölner Stadt-Anzeiger vom 13./14. September 2013, Fredericks Brief an die Schule vom April 2009, Briefe von Frederick an seine Freunde, Fredericks Texte in einem Internetforum vom 22. Juli 2013 bis zum 29. August 2013 und das eigene Erleben der Eltern. Mündlich getätigte Aussagen den Eltern gegenüber sind im Text kenntlich gemacht.
- Des Weiteren J.Bauer: „Schmerzgrenze. Vom Ursprung alltäglicher und globaler Gewalt“, C. Blessing 2011.
* Köln, Mai 2016 *
Ich bin gerade über die Gedenknotiz und die Kerzen auf dem Neumarkt aufmerksam geworden auf den Namen, und dann über Internetsuche auf diesen schrecklichen Tod Ihres Sohnes und las gerade mit tiefem inneren Entsetzen und Kloß im Hals diese Erlebnisse. Ich kann nur ahnen, wie schwer es sein muss dies so zu beschreiben. Und dennoch: wie wichtig es ist, solche Ereignisse nicht vergessen zu lassen. (Was mit den Kerzen auf dem Neumarkt offenbar funktioniert hat.)
Liebe Eltern von Frederick,
Durch einen Artikel bin ich auf Ihr Schicksal aufmerksam geworden. Ich hoffe dieser Brief wird von den Richtigen gelesen und verstanden. Es ist so traurig.